TextArbeiten/SomeChocolateIntoMyHead

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(erschienen in zett, 9'03)

"Some chocolate into my head"

Auf einer Postkarte schauen 14 bärtige Männer grimmig grinsend dem Betrachter entgegen. So sehen also typische Petersburger Künstler aus. Die Karte verströmt förmlich den Geruch von Ölfarben und Stoffleinen. Gut, dass es im Vorderhaus eine nette Bar gibt und gleich nebenan einen Plattenhändler. Hier geht es erfreulich unbärtig zu, hier trifft man auch andere Künstler, die wenig mit dem Kunstzentrum in der Pushkinskaya-10 zu tun haben. Eigentlich sind sie selten hier. Das mag an einer bewussten Abgrenzung liegen oder an den beschränkten monetären Mitteln, die einen regelmäßigen Besuch von Bar oder Plattenladen nicht zulassen.

Nur wenige Meter entfernt ist der Newskij-Prospekt, die unglaublich laute und schnelle Hauptstraße der Stadt. Mein Bekannter Vadim beschreibt St. Petersburg als eine Megapolis. Während der Rest von Russland dünn besiedelt ist, konzentrieren sich hier und in Moskau Millionen von Menschen. Am Newskij-Prospekt bekommt man eine Ahnung von dieser, hier ziemlich dynamischen Biomasse. Kommt man aus einer Seitenstraße auf den Prospekt, möchte man unwillkürlich die Stop-Taste drücken, um dieses hyperschnelle Video für einen Moment anzuhalten und Details in Ruhe erfassen zu können.

Einige der durchweg historischen, grau-beige farbenen Wohngebäude am Prospekt sind vom Dach bis zum 1. Stock durch überdimensionale Plakate verhüllt. Andere, banner-förmige Flächen sind in regelmäßigen Abständen über die Straße gespannt. Die darauf abgebildeten Schriftzüge und freundlichen Gesichter werben für Konsumartikel, vor allem moderne Kommunikationsmittel wie Laptops, PDA's und die neueste Generation der Mobiltelefone von Siemens und Samsung. Als eine mediale Anreicherung des öffentlichen Raums bringen diese Flächen durch ihre meist blauen oder grünen, Modernität und Optimismus versprechenden Farbtöne eine eigenartige Farbigkeit in das Straßenbild.

In der Innenstadt gibt es alle paar Meter ein kleines Café oder ein Schnellrestaurant. Einige wenige haben ein paar Plastikmöbel vor der Tür stehen, abgegrenzt vom restlichen Bürgersteig durch niedrige Absperrungen. Auch hier entsteht der Farbkontrast zu Häuserwänden und Bürgersteig durch die Werbeaufdrucke von Coca-Cola oder Heineken auf den Tischen und Stühlen. Trotz des warmen, sonnigen Wetters sitzen hier nur vereinzelt Menschen, diese sind in den meisten Fällen eindeutig als westliche Touristen zu erkennen. Sie scheinen sich in ihrer Umzäunung leicht deplaziert zu fühlen, während ihre Umgebung aus vorbeifahrenden, dunklen BMWs russischer Neureicher, der New Russians, mit Liedern der letzten Rammstein-CD beschallt wird.

Im Inneren der Cafés ist ein krasses Verhältnis von Arbeit und den verfügbaren Arbeitskräften auffällig. Hinter den kleinen Tresen stehen bis zu drei Bedienungen mit deutlich voneinander abgegrenzten Aufgabenfeldern von Bestellung aufnehmen bis Abkassieren. In den Pausen zwischen zwei Arbeitsvorgängen stehen die meist weiblichen Tresenkräfte regungslos im Raum oder kauern auf einem Schemel und schauen Löcher in die Luft. Durch Kundenkontakt wieder aus dieser Stasis gerissen, reagieren sie mit mehr oder weniger unfreundlichen Blicken und Gesten. "Angry working class", wird mir von Gera beim Essen erklärt, die auf ihre Art zeigt, dass Lohnarbeit keinen Spaß macht. Das schüchtert ein wenig ein und nimmt den Spaß am beabsichtigten Konsum, kommt aber ehrlicher rüber, als eine konditionierte Kundenfreundlichkeit à la americaine. An den Türen der Cafés stehen ein bis zwei Männer in Tarnanzügen und Kampfstiefeln, als Schutz für das Lokal und auch als Mahnung an jene, die schon etwas zuviel alkoholische Rauschmittel konsumiert haben, sich zu benehmen. So kommt jeder Straßenzug mit seinen sechs bis sieben Cafés und Bars locker auf ein Dutzend Sicherheitsleute. Befindet sich in dem Block noch eine Wechselstube, so kommt noch einmal eine Handvoll dazu.

Wie bei allen Sicherheitsmaßnahmen will diese Präsenz das Gefühl von Schutz vermitteln, produziert aber als konträren Nebeneffekt immer auch ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung: Der Aufenthalt muss hier ohne einen solchen Schutz nicht nur ziemlich unangenehm sein, die Maßnahmen könnten gar im Ernstfall nicht ausreichen. Aber dieses Gefühl bleibt vage. Ein Vergleich ist schließlich nicht möglich, auch nicht, ob diese Präsenz letztlich nicht nur aus einer, zum Selbstläufer gewordenen Übertreibung entstammt.

Im Boom Club wird Sicherheit anders definiert. In einem Hinterhof unweit des Newskij-Prospekts in einem unscheinbaren und von außen unbeleuchteten Flachbau bietet eine schnöde Stahltür Schutz und Heimlichkeit. In dieser vermutlich eher inoffiziellen Bar steht eine Reihe von Biertischen. Es gibt Bier in Halblitergläsern und dazu eine Art frittiertes Brot, ausgegeben von zwei jungen Frauen durch ein kleines Fenster aus dem Nebenraum. Beide tragen auf dem Kopf Armeehelme, nicht korrekt aufgesetzt, sondern schief in den Nacken geschoben.

An den Wänden hängen alte Plakate, vermutlich aus den 70er Jahren, eines zeigt ein Bild von Breschnew und Arafat, die sich lächelnd die Hände schütteln. In ihrem Kontext wirken diese Poster nicht wie nostalgische Andenken, sondern wie Fundstücke oder Trophäen, die als lustige, fast hämische Kommen-tare zur veränderten Weltordnung die Deko zur russischen Drum'n'Bass-Musik bilden.

Um in St. Petersburg neuere Architektur zu sehen, muss man mit der Metro in die Außenbezirke fahren. Eines der neueren Wohnviertel liegt direkt am finnischen Meerbusen, die 10 bis 15-stöckigen Hochäuser sind in Richtung Wasser ausgerichtet, so dass sie den BewohnerInnen eine gute Aussicht auf die Weite der Ostsee ermöglichen. An der Metrostation verkauft eine ältere Frau Schokolade, die Verpackung ist eine gut gemachte Imitation eines 500-Euroscheins, der Inhalt ist ironischerweise schwarz und schmeckt leicht bitter. Während des Rundgangs am Wasser angekommen, trudelt von einer höher gelegenen Kaimauer ein Blatt Papier herunter. Auf ihm ist eine gezeichnete Eierhand-granate zu erkennen, mit Beschriftungen in kyrillischer Handschrift. Nach kurzem Erschrecken wird mir klar, dass dies keine Bastelanleitung für einen Terroranschlag ist, sondern Lernstoff eines Wehrpflichtigen. Dieser eilt herbei und bedankt sich bei uns für die Rettung seiner Unterlagen.

Eine Woche Aufenthalt in der Stadt, das ist kaum mehr als ein Blick durch den Spalt eines Vorhangs. Viele der kulturellen Eigenheiten und Hintergründe der gesellschaftlichen Charakte-ristika der Stadt und des Landes bleiben verborgen. Ob sich Gesellschaft und Kultur anderthalb Jahrzehnte nach Perestroika und Auflösung der Räteunion weiterhin in einer Art Aufbruch befinden, wie es von einigen westlichen BesucherInnen formuliert wird, scheint mir eher fraglich. Vielmehr wirkt es so, als ob für viele das Warten auf das Wahrwerden der Heilsversprechen des neuen, nunmehr kapitalistischen Systems als zunehmend mühselig empfunden wird. Die Hoffnung ist zwar nicht aufgegeben, aber im Gegensatz zu den 90er Jahren ist Alltag wieder mehr Alltag als zuvor, dominiert vom sich Durchschlagen und kargem Broterwerb. Für diese Wahrnehmung spricht vielleicht auch, dass die Kultur- und Kunstszene St. Petersburgs einen großen Fundus an vergangenen Projekten, Ereignissen und anderen erinnerungswürdigen Momenten vorweisen kann, der durch die aktuelle Produktion scheinbar nicht mehr übertroffen werden kann.

Trotz des Wartens bleibt aber weiterhin die Einordnung des Westens als Vorbild unangetastet, zumindestens was dessen ökonomische Prosperität und die dadurch erreichte wirtschaft-liche Unabhängkeit des kaptialistischen Individuums angeht. Bei allen Gesprächen aber wird zugleich und mit Stolz auf die eigene kulturelle Produktionen verwiesen und so Eigenständigkeit und Identität betont.

Kleine Abschiedsfeier in der Wohnung von Vadims Eltern. Ich blättere durch einen dicken Ordner, der die Arbeit der Gruppe Dreli Kudo Popalo dokumentiert. Fotos, Flyer, Gedichte und Presseartikel. Mit Gleichgesinnten haben Gera, Vadim, Anton und die anderen der Gruppe selbstorganisierte Clubs gegründet und sind dort aufgetreten. Dreli Kuda Popalo machen urbane Poetry, sie performen oft auch im Kontext der Stadt, in Straßen, Straßenbahnen und Einkaufszentren, erzeugen minimale Irritationen und sprechen laut den Passanten ihre Gedanken und Gefühle ins Ohr. Das gesprochene wie geschriebene Wort zählt traditionell viel in Russland, dieses nach draußen in den öffentlichen Raum zu tragen, ist eine schöne Methode.

Der Titel ist eine Zeile aus einem Gedicht von Dreli Kuda Popalo

Text & Fotografien: Ulf Treger


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