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Wem gehört die Weltsicht?

Durch Google Earth verschmelzen reale Orte und virtuelle Informationen. Aus: analyse + kritik nr. 500, 18.11.2005

Seit diesem Sommer wurde mit Google Earth ein neuartiges Tool für den breiten und öffentlichen Zugang zu digitaler Kartografie veröffentlicht. Mit dieser elektronischen Karte soll – wenn auch in recht unterschiedlicher Detailschärfe – nicht weniger als die gesamte Erde abgedeckt werden. Durch eine enge Verknüpfung einzelner Orte mit im Web verfügbaren ortsbezogenen Informationen ist Google Earth ein weiterer Baustein der zunehmenden Verschmelzung elektronischer Netze und physikalischer Räume. Die Frage drängt sich auf, wie sich künftig die Sicht der Welt, also die Wahrnehmung und Interpretation unserer Umgebung entwickelt, wenn elektronische Werkzeuge wie Google Earth die Schnittstellen bilden.

Nach kostenlosem Download und Installation präsentiert sich das Program mit einen astronautischen Blick auf eine blaue Erdkugel, die auf die Erforschung durch den/die AnwenderIn? wartet. Von dieser Zentralperspektive aus kann man mit einer Reihe von Navigationselementen die aus Satellitenbildern zusammengesetzte Welt erforschen. Städte oder andere markante Punkte können angegeben werden und flugs zoomt und bewegt sich die Weltsicht in einer Flugsimulation an die betreffende Stelle. In der Annäherung bilden sich peu à peu Details ab: Gebirgsformationen, Flüße, Urbanisationen, schließlich einzelne Häuser und Straßen. In der höchsten Zoomstufe lassen sich bei genauem Hinsehen sogar die Schlagschatten einzelner Personen erkennen. Diese Ansicht ist überlagert mit Detailinformationen, die wahlweise eingeblendet werden können: Ländergrenzen, Straßen, Städtenamen und, vor allem im us-amerikanischen Teil von Google Earth, Hinweise auf einzelne Gebäude und Landmarken sowie Dienstleistungeinrichtungen wie Tankstellen und Pizzaservices. Per Klick auf diese Hinweise können damit verknüpfte Websites im World Wide Web aufgerufen werden. Das Erforschen und Navigieren durch die Google-Erde ist recht spaßig, hier wurde eine Koppelung von ansonsten bei Computerprogrammen eher getrennt auftretende Eigenschaften versucht: Nützlichkeit der angebotenen Informationen und (Spiele-)Spaß bei der Anwendung.

Das Programm entspricht dem Trend zur Entwicklung vernetzter Informationstechnologien, die virtuelle Informationen und reale Orte in Verbindung bringen. Ähnliche Anwendungen werden von der NASA mit dem Programm "World Wind", von Yahoo und MSN angeboten. Digitale Karten können schon länger mit Hilfe von Computern erstellt und verfügbar gemacht werden. Die Neuerung besteht in der Kombination mit "natürlichen" Abbildungen, wie der Satellitenbilder und mit den im World Wide Web verfügbaren Informationen. Physikalische Orte erhalten durch die Überlagerung elektronische Metadaten und Hyperlinks eine weitere Dimension und dienen ihrerseits als "Referenzpunkte" elektronischer Kommunikation.

Nun war schon die herkömmliche Karte kein neutrales Medium, wertfrei einsetzbar für die verschiedensten Interessen und Blickwinkel. Sie war immer auch ein kulturelles Produkt, eine Ansammlung von Grafik und Zeichen, von Bedeutungen und Aussagen, kaschiert durch eine Aura von wissenschaftlicher Objektivität und den Augenschein einer realitätsnahen, quasi exakten Abbildung von Raum. Der praktische Nutzen von Straßenkarten oder Stadtplänen beispielsweise läßt gerne übersehen, dass diese eine eher unscharfe Abbildung von räumlichen Strukturen ergeben, sei es aufgrund technischer Unzulänglichkeiten oder gewollter Manipulation: So versehen KartenproduzentInnen ihre Produkte oftmals mit versteckten Fehlern, wie nicht existierenden Sackgassen oder falsch geschriebenen Straßennamen, um so ungenehmigte Derivate einfach nachweisen zu können. Karten werden also mit bestimmten Intentionen erstellt und verbreitet; sei es um Territorien neu zu definieren, Grenzen festzuschreiben oder um zu entscheiden, welche Informationstiefe mit Karten vermittelt wird und welches Wissen ausgeblendet bleibt.

Der Geografiehistoriker John Brian Harley sieht einen direkten Zusammenhang von Karten und Machtausübung: "Generell wird die Macht des Kartenproduzenten nicht auf Individuen ausgeübt, sondern auf das Wissen über die Welt, das für die Menschen im allgemeinen verfügbar ist. Dennoch wird dieses nicht bewusst gemacht, und vor allem überschreitet es die allgemeinen Kategorien von ,beabsichtigt'und ,unbeabsichtigt'. Die Karte ist ein schweigender Vermittler der Macht." Dynamische Geoinformationsysteme, wie Google Earth, die auf Satellitenfotografie aufgebaut und mit Schichten aus Metadaten, Anmerkungen und Verknüpfungen zu Webseiten und andern Daten angereichert sind, nehmen durch eine scheinbar naturalistische Wiedergabe der Welt indirekteren Einfluß als klassische, gezeichnete Karten. So stellt sich zunehmend die Frage: unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten werden diese Metadaten erstellt und verbreitet? Und wie beeinflussen sie die Definition und Wahrnehmung physikalischer Orte?

In der digitalen Kartografie überschneiden sich die Interessenslinien dreier, unterschiedlicher Akteure: Ein Akteur ist der Staat, der zum überwiegenden Teil überhaupt erst für die Sammlung und Aufbereitung geografischer Daten Sorge trägt, um sie für statistische, wissenschaftliche, stadtplanerische wie regierungstechnische Verwendungen zur Verfügung zu stellen. Besonders Regierungs- und Sicherheitsorgane, mit ihrem seit 9/11 deutlich ansteigenden Anspruch, möglichst umfassend über den Rest der Welt informiert zu sein, verfügen seit langem über detailgenaue Satellitendaten, komplexe Informationsysteme sowie Zugriff in Echtzeit. Dies alles sind Merkmale, von denen die öffentlich verfügbaren Anwendungen weit entfernt sind.

Die staatlichen Einrichtungen sind demnach die Erzeugerinnen jener Daten, die jetzt allmählich in einer niedrigauflösenden und zeitversetzten Light-Version an den Massenmarkt weitergereicht werden. Lautstarke Proteste von Regierungen einzelner Länder, wie Indien oder den Niederlanden, Google Earth sei ein gefährliches Werkzeug für Terroristen, sind daher eher als Befürchtungen zu lesen, dass durch die Ausbreitung von Geoinformationsystemen und -technologien die eigene Informationshoheit in Frage gestellt wird. Zum Beispiel von der zweiten Akteurin, der Informationswirtschaft, die sich mit digitalen Karten und deren Anbindung an ortsbezogene Werbung und anderer vermarktbarer Inhalte ein neues, umsatzsteigerndes Betätigungsfeld verspricht.

Schließlich wird mit den Produkten der Informationsindustrie den AnwenderInnen, als dritte Akteure in diesem Feld, ein einfacher und scheinbar freizügiger Zugang ermöglicht. Die Benutzung von Google Earth und ähnlichen Softwareprodukten ist allerdings, mit Bezug auf die Unterscheidung des Verfechters freier Software, Richard Stallman, "frei" allerhöchstens im Sinne von Freibier, also lediglich unmittelbar kostenlos in der Benutzung. Ein Zugang wird gewährt, aber nichts Eigentliches verschenkt. So wird eine weitergehende Benutzung von Karten und Geodaten ermöglicht als bisher, aber ohne dass die zugrunde liegenden Daten, die Programme und Algorithmen frei verfügbar sind. Die verschiedenen Möglichkeiten, eigene Datenlayer auf die Weltkugel aufzusetzen, können darüber nicht wirklich hinwegtäuschen. Dies sind nicht nur praktische Features, sondern sie dienen der Anbindung einer begeisterungsfähigen Internet-Community an das eigene Produkt. Zudem wird durch die freiwillige Sammlung von Informationen das Produkt angereichert. Diese unmittelbare Gestattung erfolgt einzig und allein mit dem Ziel des nichtumittelbaren Gelderwerbs und einer größtmöglichen Marktdominanz.

Dass gerade die Firma Google, die neben Amazon und Ebay ohnehin schon eine der großen Player im World Wide Web ist, mit seinem Weltprojekt ein weiteres Aktionsfeld erschliesst, nährt die Kritik an ihrer Funktion als allmächtige Wissensvermittlerin und maßgebliche Hüterin der "Wege zum Wissen". Seit ihrem Börsengang werden die eingespielten Millionen genutzt, alle Aspekte (und Neuentwicklungen) der Zugänglichmachung von digitalen Informationen abzudecken und dies durchaus zur Zufriedenheit ihrer NutzerInnen. Google Earth ist nur ein Beispiel von vielen – auch wenn sich erst noch herausstellen wird, ob diese Anwendung neben dem Funfaktor auch eine gewisse Alltagstauglichkeit besitzt. Google Print, der Versuch einer umfassenden Digitalisierung gemeinfreier Bücher, ist ein weiteres. Bei der täglichen Suche gerät aber die Erkenntnis aus Vor-Google-Zeiten in Vergessenheit, dass über das Internet deutlich mehr Informationen verfügbar sind, als die Indexe einzelner Suchmaschinen hergeben können. Diese dunklen Bereiche des Webs wurden durch Google zwar spärlicher, aber auch schwerer wahrnehmbar. Vor allem aber gibt es die Befürchtung, dass Google nicht nur sein annäherndes Monopol der Informationsvermittlung, sondern auch das Wissen über die Interessen Einzelner auswertet und gewinnbringend ausnutzt.

Auch wenn sich der Zugriff auf dynamische Karten, Satellitenfotos und Geodaten zunehmend verallgemeinert, so wird eine, von RechteinhaberInnen und VermarkterInnen nicht vorgesehene Weiterverwendung oder Bearbeitung verhindert - dies unter Berufung auf das Urheberrecht. Während in den Vereinigten Staaten immerhin basale Geoinformationen öffentlich zugänglich macht werden, sind hierzulande die lokalen Katasterämter und staatlichen Geoinformationseinrichtungen im Zuge einer fortschreitenden Verwirtschaftlichung urbaner Administrationen angehalten, das von ihnen gesammelte und aufbereitete Wissen möglichst gewinnträchtig zu vermarkten. Dennoch bietet eine digitale, kontextualisierbare Kartografie, die Erstellung und Anwendung von "geokodierten Hypermedien" viele Möglichkeiten der Nutzung, jenseits einer regierungstechnischen oder ökonomischen Anwendung. Mit Hilfe von GPS-Empfängern, also durch eine Positionsbestimmung per Satellitenpeilung, können Geodaten selbst erstellt und freie Daten anderer übernommen werden. Diese können durch freie Software verarbeitet werden. Offene Standards für eine einheitliche und transparente Beschreibung von Geodaten befinden sich in der Entwicklung. Durch sie soll erreicht werden, dass sich nicht unzählige, voneinander isolierte Datenmengen in unterschiedlichsten Formaten ansammeln, sondern ein problemloser Austausch von digitalen Karten möglich ist.

Eine solche offene Kartografie läßt sich für verschiedene Zwecke nutzen: um eigene, subjektive Wahrnehmungen der Umgebung aufzuzeichnen, alternierende Erzählungen über Orte und Ereignisse zu erfassen oder um antagonistische Sichtweisen und Aktivitäten zu visualisieren. Die Weltsichten, wie sie von Google Earth und anderen Projekten angeboten werden, verstärken das Phänomen einer "Stereo-Wirklichkeit", wie Paul Virilio sie nennt. Diese besteht aus der Realität der direkten Umgebung "in der sich unsere Körper fortbewegen" und der medialen Wirklichkeit – zwei Bilder, die sich gegenseitig überlagern und unsere Wahrnehmung beeinflußen. Es wäre doch schade, wenn dieser Mix nur durch eine Brille aus dem Hause Google betrachtet werden würde.

Ulf Treger

Als Einstieg in die elektronische Kartografie sei das englischsprachige Buch "Mapping Hacks" von Schuyler Erle, Rich Gibson und Jo Walsh empfohlen, eine DIY-Anleitung erschienen bei O'Reilly, ISBN 0-596-00703-5


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